Hirnforschung, Neurotechnologie, Bewußtseinskultur

Medizin-ethische, anthropologische und sozialphilosophische Fragen der Zukunft

In den letzten zehn Jahren haben wir mehr über die Struktur und die Wirkungsweise des menschlichen Gehirns erfahren als in den dreihundert Jahren davor. Es ist bereits jetzt abzusehen, daß der Wissenszuwachs in den Neurowissenschaften sich auch in der Zukunft weiter mit großer Geschwindigkeit fortsetzen wird. Wenn diese Annahme richtig ist, dann wird diese Entwicklung eine ganze Reihe von Folgen für uns alle haben. Meine Prognose ist die folgende: Unsere Handlungsmöglichkeiten bei der direkten Beeinflussung des menschlichen Gehirns werden sich bald und in sehr vielfältige Bereiche hinein erweitern. In vielen dieser Bereiche werden unsere moralischen Intuitionen versagen. Zumindest diejenigen von uns, die sich nicht fest an metaphysische Hintergrundideologien oder starre Wertsysteme gebunden haben, werden in vielen Situationen zugeben müssen, daß sie selbst einfach nicht wissen, wie hier im konkreten Einzelfall eine ethisch überzeugende Handlungsweise aussehen könnte. Aber auch unser eigenes Bild von uns selbst - in dem viele der eben erwähnten Intuitionen ihre Wurzeln haben - wird sich auf dramatische Weise verändern. Es entsteht nämlich nicht nur eine ganze Palette von neuen Problemstellungen für die angewandte Ethik, sondern auch eine neue, durch die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung erweiterte Anthropologie: Wir bewegen uns auf ein grundlegend neues Verständnis dessen zu, was es heißt, ein Mensch zu sein. Das allgemeine Bild vom Menschen wiederum ist aber eine der wichtigsten Grundlagen unserer Kultur. Seine Besonderheit besteht darin, daß es sehr subtil und doch wirksam die Art und Weise beeinflußt, wie wir im Alltag miteinander umgehen und uns selbst erleben. Deshalb wird die oben angedeutete Entwicklung auch gesellschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen und schließlich unser aller Leben beeinflussen. Interessanterweise kann man die ersten Anzeichen der eben angedeuteten Entwicklung bereits heute beobachten. Besonders deutlich zeigen sie sich auf dem Gebiet der Medizin, nämlich in Zusammenhang mit der ethischen Diskussion um Neurotransplantation und Neurotechnologie. Ich zitiere aus einem Text des Büros für Technikfolgen Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB), welcher sich mit der Alltagsrelevanz der Neurowissenschaften auseinandersetzt:

Der Erkenntnisgewinn über die biologische Informationsvermittlung und -verarbeitung im Gehirn hat insbesondere Auswirkungen auf die frühzeitige Behandlung und Beherrschung zahlreicher, bis dato als "Schicksalsschläge" hingenommener Krankheiten. Man hofft, daß ein besseres Verständnis der Pathogenese hilft, die Stagnation der medikamentösen Therapie aufzubrechen. ... In der vergangenen Zeit hat die Übertragung embryonaler Hirnzellen auf Alzheimerpatienten für großes öffentliches Aufsehen gesorgt. In der Schlaganfallforschung werden im Lauf der kommenden 10 Jahre weit darüber hinausgehende Ansätze zur Gehirntransplantation erwartet. Vorstellbar ist, daß bestimmte "befallene" Hirnpartien ausgetauscht werden und/oder daß die Regenerationsfähigkeit solcher von einem Schlaganfall betroffener Areale verbessert wird, z.B. durch die Einpflanzung von gesunden, noch wachstumsfähigen Hirnzellen. ...

    Theoretisch ist es denkbar, daß das Gehirn mittels Mikrochip bestimmte Informationen (z.B. die Rechenfähigkeit) direkt aufnehmen lernt bzw. daß Datenbanken ohne den Umweg über den Computer direkt ins Gehirn abgerufen werden können. Die Entwicklung sogenannter intelligenter Prothesen (von Minielektroden über Mikrochips bis hin zu ganzen Organtransplantaten) stellt eine weiter Möglichkeit dar, mit Hilfe der Informationstechnologie bei Funktionsstörungen des Nervensystems Abhilfe zu schaffen. Dabei sollen sensorische oder motorische Defizite von z.B. querschnittsgelähmten oder tauben Menschen technisch ersetzt werden. Auch könnte durch eingepflanzte Elektroden das Gehirn derart stimuliert werden, daß bei Schmerzen die Ausschüttung körpereigener Substanzen zur Beruhigung und Gemütsaufhellung (Opioide) ausgelöst wird. Hier ergeben sich völlig neue Anwendungsfelder beispielsweise für die Anästhesie, die Schmerztherapie und die Behandlung depressiver Zustände. Unter Umständen wäre eine künstlich erzeugte Ausschüttung solcher Körperstoffen auch zur Behandlung Drogensüchtiger einsetzbar. (TAB 1995: 14-5)

Das Unangenehme an den vielen neuen Fragen ist unter anderem das Tempo mit dem sie sich uns aufdrängen. Die Eigendynamik des naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts und die kapitalistische Verwertungslogik, die dazu führt, daß die Ergebnisse dieses Wissenszuwachses mit großer Effizienz und Geschwindigkeit technologisch umgesetzt und weltweit vermarktet werden, lassen uns nicht viel Zeit zum Nachdenken. In anderen Worten: Wir befinden uns bereits jetzt im Zugzwang. In dieser Situation ist es wichtig, daß die nun notwendig gewordene öffentliche Diskussion um die Ethik der Neurotechnologie mit maximaler Rationalität geführt wird. An dieser Stelle zeigt sich die Bedeutung der praktischen Philosophie - und zwar nicht, weil Philosophen und Philosophinnen heilige Männer und Frauen wären, die ein spezifisches moralisches Expertenwissen und möglicherweise sogar einen mehr oder weniger direkten Draht zu höheren Wahrheiten besitzen. Die gegenwärtige Entwicklung benötigt vielmehr deshalb einen philosophischen Kommentar, weil sie zunächst in Form einer "begriffswissenschaftlichen Begleitung" die Veränderungen in unserem Welt- und Selbstbild widerspiegeln muß. Dieser erste Aspekt bildet gewissermaßen die theoretische Ebene des Unternehmens. In praktischer Hinsicht jedoch muß die Philosophie auch direkt in die Debatte eingreifen, etwa, um sie rational zu strukturieren, um in kritischer Absicht bestimmte Zielsetzungen zu hinterfragen, aber auch um zum Beispiel als "Vermittler zwischen innovativen medizinischen Technologien und populärer Skepsis zu wirken" (Birnbacher 1995: 181). Der philosophische Kommentar zur rasanten Entwicklung in den Neurowissenschaften muß also auf vielen Ebenen gleichzeitig entwickelt werden.

Die erste, die theoretische Ebene wird heute zum großen Teil durch das besetzt, was man "Philosophie des Geistes" nennt. Typische Fragestellungen sind hier die folgenden: Was ist die Beziehung zwischen Geist und Körper? Was ist überhaupt eine Handlung, was meinen wir eigentlich, wenn wir von der "Autonomie des Subjekts" oder "abwärtsgerichteter Kausalität" sprechen? Wie ist es denkbar, daß in einem menschlichen Nervensystem nicht nur Bewußtsein, sondern auch eine subjektive Innenperspektive entsteht? Was ist überhaupt bewußtes Erleben, was genau bedeutet es, daß geistige Zustände subjektive Zustände sind? Ich habe mich in anderen Veröffentlichungen ausführlich mit diesem Bereich beschäftigt (vgl. z.B. Metzinger 1993, 1995, 1996) und will ihn deshalb hier vollständig übergehen.

Die zweite Ebene ist die der "praktischen Philosophie", der Moralphilosophie. Typische Fragen wären hier: Welchen erkenntnistheoretischen Status besitzen Aussagen über moralische Normen wie etwa: "Was Du nicht willst, das man Dir tu', das füg' auch keinem andern zu!" ? Sind normative Sätze Behauptungssätze, mit denen wir das Bestehen von Sachverhalten behaupten? Besitzen solche Sätze einen kognitiven Charakter, beschreiben wir mit ihnen die Welt, formulieren wir Erkenntnisse oder geben wir Informationen weiter? Oder gibt es im Grunde überhaupt keine normative Ethik, weil - wie die Non-Kognitivisten unter den Moralphilosophen sagen würden - es gar keine objektiven moralischen Sachverhalte gibt, die den Gegenstand solcher Aussagen bilden könnten? Können normative Aussagen überhaupt wahr oder falsch sein? Können sie begründet werden? Antworten auf die Frage, ob und auf welche Weise ethische Normen überhaupt begründet werden können, führen dann in das weite Feld der "Metaethik". Die Metaethik ist sozusagen die Wissenschaftstheorie der Ethik, sie besteht aus Sätzen über andere Sätze, sie ist eine Theorie über andere Theorien (zur Einführung vgl. Kutschera 1982: 41ff).

Wenn es dagegen nicht darum geht, Urteile über Arten von ethischen Urteilen zu begründen, sondern Urteile über konkrete Handlungen, dann erst spricht man von Ethik im eigentlichen Sinn. Diese Ebene ist es, die man normative Ethik nennt. Der Übergang von der Ebene der Metaethik zur normativen Ethik ist kein leichter - hier wird es die fundamentalsten Meinungsverschiedenheiten geben. Zur angewandten Ethik wird die normative Ethik schließlich, wenn sie sich zusätzlich auf einen ganz bestimmten Anwendungskontext konzentriert. Ein solcher Anwendungskontext entsteht immer aus einer speziellen Klasse von Handlungen. Solche Klassen bestehen zum Beispiel aus medizinischen Handlungen ("angewandte Medizinethik"), aus Handlungen, mit denen absichtlich und direkt in das zentrale Nervensystem eines Menschen eingegriffen wird ("angewandte Neuroethik") oder aus Handlungen, bei denen Menschen durch solche Eingriffe gezielt ihr eigenes bewußtes Erleben oder das anderer Personen verändern wollen ("angewandte Bewußtseinsethik").

Unser Zusammenhang wird zunächst durch die neuromedizinischen Ethik gebildet. Hier kann man in einem letzten Schritt noch einmal Fragen der innerwissenschaftlichen Ethik und Fragen der angewandten Ethik beim konkreten medizinischen Einsatz neuer Technologien unterscheiden. Worum es hier geht, ist also die parallele Beurteilung sowohl von forschendem Handeln als auch von therapeutischem Handeln. Erst auf einer allgemeineren Ebene entsteht dann das, was ich soeben provisorisch als "Neuroethik" und "Bewußtseinsethik bezeichnet habe. Schließlich geht es am Ende jedoch immer auch um Wissenschaftspolitk und um Gesundheitspolitik, weil es mindestens zwei weitere thematische Bereiche gibt, in denen ein philosophischer Kommentar zur Klärung der Debatte hilfreich sein kann: Die Sozialphilosophie und die Anthropologie. Denn wir sind immer auch mit einer Reihe von sehr allgemeinen Fragen konfrontiert, die zum Beispiel die kulturelle Einbettung des medizintechnologischen Fortschritts betreffen (Technikfolgenabschätzung) und vor allem aber auch die Konsequenzen unseres gewandelten Bildes von uns selbst ("Anthropologiefolgenabschätzung"). Im folgenden werde ich diese thematischen Bereiche kurz durchgehen. Aus Platzgründen werde ich mich hier allerdings auf eine stichwortartige Liste von eher thesenartigen Einzelüberlegungen beschränken müssen.

 

Vorschläge zur Entwicklung einerinnerwissenschaftlichen Ethik für die medizinische Neurotechnologie
  • Die in den relevanten Disziplinen arbeitenden Wissenschaftler haben grundsätzlich das Recht, ein weiteres Festhalten am Ideal maximaler Denk- und Forschungsfreiheit zu fordern. Im Gegenzug sollten sie zu einer freiwilligen ethischen Selbstbindung der medizinisch orientierten Bereiche in den Neurowissenschaften und der Informatik bereit sein.
  • Entsprechend dem Grundprinzip der Minimierung subjektiven Leidens sollten neben der Grundlagenforschung solche Forschungsaktivitäten Vorrang haben, die direkt dazu beitragen, daß psychisches und körperliches Leiden von Menschen gemildert wird.
  • Eine Forschungsethik für die medizinische Neurotechnologie darf jedoch nicht nur eine Ethik für Menschen sein: Objekte ethischer Überlegungen müssen auch solche empfindungsfähigen Wesen sein, die nicht denken können und sich selbst keine moralischen Verpflichtungen uns Menschen gegenüber auferlegen können. Das zentrale Kriterium ist hier nicht Rationalität, sondern Leidensfähigkeit.
  • Die betroffenen Wissenschaftler sollten sich deshalb verpflichten, auch das Leiden von Versuchstieren immer weiter zu minimieren. Dies muß durch eine ständige, aktive und staatlich kontrollierte Optimierung der Haltungs- und Versuchsbedingungen für solche Tiere geschehen, sowie durch den vermehrten Einsatz von Computersimulationen und internationalen Datenbanken. Bei der Operation von Versuchstieren muß dieselbe Sorgfalt herrschen wie bei menschlichen Patienten. Diese Strategie der aktiven und fortschreitenden Minimierung des Leidens von Versuchstieren erfordert eigene Forschungsprojekte und eigene Budgets. Erforderlich ist deshalb eine institutionalisierte Form der Suche nach Alternativen von vergleichbarer Wirksamkeit.
  • Die Grundprinzipien der Verminderung subjektiven Leidens und des Neminem laedere (das auch die "objektiven" Interessen empfindungsfähiger Wesen beinhaltet) bedeuten auch, daß die relevanten wissenschaftlichen Institutionen kein Geld aus Militärbudgets annehmen dürfen. Jede militärische Umsetzung der Neurotechnologie muß von Anfang an verhindert werden.
  • Deshalb muß unter ethischen Gesichtspunkten von allen beteiligten Wissenschaftlern verlangt werden, sich nach Kräften aktiv dafür einzusetzen, daß sie nicht indirekt von ihren Auftrag- oder Geldgebern getäuscht werden und daß in der Zukunft jede militärische Nutzung der von ihnen erarbeiteten Forschungsergebnisse unterbleibt. In allen Zweifelsfällen liegt die ethische Verantwortung auf seiten der Wissenschaftler.
  • Als Experten sollten sich deshalb alle in den fraglichen Gebieten der Informatik und Hirnforschung arbeitenden Wissenschaftler verpflichten, die Öffentlichkeit und die Vertreter der demokratischen Institutionen im Rahmen der ihnen gegebenen Möglichkeiten regelmäßig und so früh wie möglich über potentielle Gefahren oder bevorstehenden Mißbrauch der von ihnen erarbeiteten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu informieren. Die Transparenz der Forschung liegt selbst im moralischen Verantwortungsbereich der Experten.

 

Angewandte Ethik für die medizinische Neurotechnologie
  • Das menschliche Nervensystem oder Teile desselben dürfen nicht zur Erzielung finanzieller Gewinne verwendet werden. Transplantationen von menschlichem Nervenzellgewebe dürfen nur dem unmittelbaren therapeutischen Nutzen des Empfängers dienen. Konkret kann das zum Beispiel auf der "Explantationsseite" bedeuten, finanzielle Entschädigungen für Frauen auszuschließen, die nach einem Schwangerschaftsabbruch der Verwendung fetalen Hirngewebes für die Neurotransplantation bei Morbus Parkinson zustimmen.
  • Der Zugang zu kostspieligen und technologisch aufwendigen Gesundheitsleistungen muß sozial gerecht verteilt werden. Das bedeutet, daß Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit entwickelt und kritisch diskutiert werden müssen. Stella Reiter-Theil hat in diesem Zusammenhang drei Fragen formuliert, die die konkrete Hintergrundproblematik verdeutlichen:
    • Wie soll der vermutlich wachsende Bedarf an fetalem Gewebe aus Schwangerschaftsabbrüchen beantwortet werden, wenn - voraussichtlich - nicht ausreichend "Material" zur Verfügung steht?
    • Mit welchen Maßnahmen soll gesellschaftlicher Druck auf Frauen in der Situation des Schwangerschaftsabbruchs verhindert werden, der sie dazu veranlassen könnte, ambivalent oder entgegen eigener Vorbehalte einer Transplantation zuzustimmen?
    • Auf welchem Wege soll die Verteilung des knappen Gutes "fetales Hirngewebe" vor sich gehen und welche Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit werden hier angelegt? (Reiter-Theil 1995: 178)

Reiter-Theil weist ebenfalls darauf hin, daß möglicherweise mit der Erweiterung des Anwendungsspektrums für solche Eingriffe zu rechnen ist. Dies könnte mit einer weiteren Verschärfung der "Marktsituation" und mit einer Erhöhung des gesellschaftlich-emotionalen Drucks auf die schwangere Frau einhergehen. Es ist anzunehmen, daß diese Problematik sich auch durch eine weiter fortschreitende Globalisierung der fraglichen "Märkte" verkomplizieren könnte.

  • Die Patienten haben ein Recht, vor den spezifischen Interessen des Medizinbetriebs und der Medizinindustrie geschützt zu werden. Was die praktische Umsetzung neurotechnologischer Methoden im medizinischen Alltag angeht, sollte deshalb das Prinzip der Patientenautonomie maximiert werden.
  • Patientenautonomie heißt (unter anderem) das folgende: Auch und in erster Linie der Patient hat zu entscheiden, wie groß sein Leidensdruck wirklich ist, welche Risiken er einzugehen bereit ist und wann die ultima ratio der Neurotechnologie zum Einsatz kommen soll. Was Schadensvermeidung (die richtige Interpretation des Nonmalefizienzprinzips) und was eine wirkliche Hilfeleistung (die richtige Interpretation des Benefizienzprinzips) in seinem eigenen Fall ist, entscheidet also immer auch der Patient selbst. Der Patient hat deshalb auch Anspruch auf Erhalt sämtlicher medizinischen Informationen, die über ihn gesammelt worden sind. Wie weit er diesen Anspruch einlösen will, sollte ihm selbst überlassen bleiben.
  • Die Realisierung von Patientenautonomie könnte auch - dies ist ein Vorschlag - die Einführung von Patientenanwälten beinhalten. Patientenanwälte sind Fachleute, die nicht die Interessen der Forschung und des Medizinbetriebs vertreten, sondern eigens dazu geschult worden sind, dem Patienten bei seiner Entscheidungsfindung behilflich zu sein.
  • Der Einsatz neurotechnologischer Verfahren wird in vielen Fällen mit einer psychosozialen Langzeitbetreuung, zumindest mit dem Angebot einer solchen Nachbehandlung einhergehen müssen. Dies betrifft nötigenfalls - z.B. bei der Verwendung fetalen Hirngewebes - nicht nur den Patienten selbst, sondern auch die Frauen, die eine Schwangerschaft abgebrochen haben.
  • Grundsätzlich sind auch nur begrenzt einwilligungsfähige Patienten so weit wie möglich in das Einwilligungsverfahren mit einzubeziehen. "Informed consent" ist eine Zielvorstellung, die in jedem Einzelfall so weit wie eben möglich approximiert werden muß. Das Ausmaß der Information und seine wechselseitige Steuerung durch Arzt und Patient ist deshalb selbst Gegenstand ethischer Überlegungen.
  • Nach dem jeweiligen Erkenntnisstand als riskant oder wissenschaftlich unabgesichert zu beurteilende neurotechnologische Eingriffe an nicht einwilligungsfähigen Patienten sind weder unter dem Benefizienzprinzip noch zu Forschungszwecken erlaubt.
  • Auf der anderen Seite darf nicht übersehen werden, daß viele bahnbrechende Erfolge der medizinischen Forschung in der Vergangenheit eben nur durch genau solche riskanten therapeutischen und medizintechnischen Experimente erzielt werden konnten. Patienten, die aus diesem Grund und nach reiflicher Überlegung und Beratung bereit sind, durch die Erhöhung ihres persönlichen Risikos das potentielle Leiden zukünftiger Patienten zu mildern, sollten das Recht besitzen, dies auch zu tun. Noch einwilligungsfähige Patienten sollten deshalb das Recht besitzen, für den Fall ihrer eigenen zukünftigen Einwilligungsunfähigkeit auch riskanten Operationen in Form einer schriftlichen Vorabverfügung zuzustimmen.

 

Stichworte für den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit den Resultaten der wissenschaftlichen Arbeit in den Neurowissenschaften und in der Informatik
  • Die Öffentlichkeit wird zu einer breit angelegten, differenzierten und sich über den üblichen Rahmen der demokratischen Institutionen hinaus erstreckenden Diskussion aufgefordert. Das gilt in einem ersten Schritt für den Bereich der Neurotechnologie, in dem bereits jetzt Handlungsbedarf besteht.
  • Die Gegenstände einer solchen ethischen Diskussion sollten zunächst nur die neuen Handlungsmöglichkeiten im einzelnen sein - zum Beispiel der medizinische Einsatz neurotechnologischer Verfahren. Dabei geht es nicht nur um deren Begrenzung, sondern vor allem auch um ihre rationale Nutzung. Das grundlegende ethische Ziel ist dementsprechend ein Gewinn von Freiheiten für das Individuum, mit denen es sich gleichzeitig neu entstehenden Gefahren - etwa erweiterten Manipulationsmöglichkeiten - erfolgreich widersetzen kann.
  • Die sozialethische Dimension der Problematik darf nicht ausgeblendet werden. Die gesamtgesellschaftliche Diskussion sollte sich darum auch ganz allgemein mit der ethischen Problematik befassen, die sich aus dem Synergismus zwischen Neurowissenschaften und Informatik ergibt. Dabei muß ein besonderes Augenmerk auf die technologische und kulturelle Umsetzung der neuen Erkenntnisse und die sich beschleunigende Eigendynamik dieser Entwicklung gerichtet werden. Dies betrifft dann nicht mehr nur die medizin-ethischen Implikationen des technologischen Zugriffs auf das menschliche Gehirn, sondern auch zum Beispiel so weit voneinander entfernte Bereiche wie den Umgang mit neuen elektronischen Medien ("erweiterten medialen Umwelten"), die Drogenpolitik oder die Pädagogik.



    Was bedeutet dies an konkreten Beispielen? Gegenwärtig erleben wir die Anfänge einer enormen Erweiterung unserer medialen Umwelt: durch das Kabelfernsehen, durch interaktive Unterhaltungselektronik wie Cyberspace-Spiele, durch die weltweite Kommunikation über das Internet oder die Überschwemmung mit Information aus dem WorldWideWeb. Es ist nicht klar, ob diese Einbettung in künstliche Informationsströme nicht selbst wieder im Sinne einer "Rückkonfiguration" auf unser zentrales Nervensystem zurückwirkt und dieses schädigt. Es könnte zum Beispiel sein, daß sich die Struktur unsere Sinneswahrnehmung dauerhaft verändert, etwa durch die Art und Weise wie in diesen medialen Umwelten Bilder und andere visuelle Informationen dargeboten werden. Möglicherweise zapfen die neuen Medien dem menschlichen Gehirn ständig eine höhere Aufmerksamkeitsleistung ab, als dieses Organ auf Dauer zu geben in der Lage ist. Das könnte zu einer permanenten Verkürzung der Aufmerksamkeitsspanne, zu Konzentrationsstörungen und zu Beeinträchtigungen kognitiver Fähigkeiten führen. Ein zweites Beispiel: die Psychopharmakologie. Es wird als Resultat neurowissenschaftlicher Forschung viele neue Medikamente geben, die geistige Funktionen durch immer genauere Veränderung zerebraler Funktionen modulieren oder wiederherstellen. Das könnte uns etwa ermöglichen, psychiatrische Erkrankungen oder die normale senile Demenz positiv zu beeinflussen. Es wird aber immer auch eine illegale Psychopharmakologie geben, mit einer illegalen Industrie, die einen illegalen Markt mit immer neueren synthetischen Drogen (z.B. vom Phenäthylamin-Typ) bedient. Deshalb könnte sich auch die Drogenproblematik in Zukunft auf bisher ungeahnte Weise verschärfen und ausdehnen. In der Pädagogik - ein letztes Beispiel - setzen sich bereits neue, computergestützte Formen des Lernens durch. Kinder werden immer häufiger vor dem Computer lernen, etwa von einer CD-ROM. Auch dies birgt nicht nur neue Chancen, sondern auch Risiken in sich. Wie neueste Forschungen in der Robotik und der Künstlichen Intelligenz zeigen, ist menschliche Intelligenz zu einem überwiegenden Teil "Körperintelligenz": Wir sind leibliche Wesen, die über eine prärationale Intelligenz verfügen und unsere Beziehung zur Welt zum großen Teil durch körperliche Handlungen aufbauen. Niemand weiß, wozu es führen wird, wenn junge Menschen sich in den entscheidenden Phasen ihrer Entwicklung immer öfter in künstlichen anstatt in natürlichen Umgebungen bewegen, wenn die Mensch-Mensch-Interaktion in der Schule immer weiter durch eine "entkörperlichte" Mensch-Maschine-Kommunikation ersetzt wird.
  • Aus den Neuro- und Kognitionswissenschaften sowie der Informatik ergibt sich zwangsläufig auch ein völlig neues Bild vom Menschen und eine neue Theorie darüber, was geistige Vorgänge überhaupt sind. Es ist bereits jetzt deutlich abzusehen, daß diese neue Anthropologie und die mit ihr einhergehende neue Theorie des Geistes fast allen traditionellen Bildern vom Menschen und seinem inneren Leben dramatisch widersprechen wird. Meine These ist: Das allgemeine Bild vom Menschen wird sich im kommenden Jahrhundert durch die Fortschritte der Neuro-, Informations- und Kognitionswissenschaften tiefgreifender verändern als durch jede andere wissenschaftliche Revolution der Vergangenheit. Ein Beispiel: Nehmen wir an, die neuronalen und funktionalen Korrelate der wesentlichen Merkmale des Bewußtseins sind einmal erforscht. Dann wird dies von vielen dahingehend interpretiert werden, daß die Annahme, es könnte - zum Beispiel nach dem physischen Tod - bewußtes Erleben auch in der Abwesenheit dieser körperlichen Basis geben, nur noch als grob irrational beurteilt werden kann. Wenn bewußtes Erleben einmal auf der begrifflichen Ebene neurokomputationaler Theorien einer reduktiven Erklärung zugänglich werden sollte, dann würde der klassische Begriff der "Seele" endgültig zu einem leeren Begriff: Noch an diesem klassischen Begriff orientierte Theorien werden dann genauso irrational erscheinen wie die Theorie, daß die Sonne sich in Wirklichkeit doch um die Erde dreht. Das würde zum Beispiel bedeuten, daß überhaupt nicht mehr klar ist, was wir überhaupt meinen könnten, wenn wir von "psychosozialen Langzeitfolgen", "psychosomatischer Medizin", "Psychotherapie" oder auch mit Hilfe so beliebter Leerformeln wie der vom "Menschen in seiner leib-seelischen Ganzheit" sprechen. Die gegenwärtig neu entstehende Anthropologie muß ebenfalls zum Gegenstand breit angelegter Diskussionen gemacht werden. Denn es ist nicht unwahrscheinlich, daß die wichtigen neuen Beiträge zu unserem Bild vom Menschen in einigen Aspekten - zumindest aus der Perspektive klassischer Anthropologien - und besonders im subjektiven Empfinden vieler Menschen eine Demütigung und eine Kränkung darstellen. Auch auf diese Entwicklung muß die Öffentlichkeit so bald wie möglich in Gestalt einer rationalen und alle Betroffenen einschließenden Diskussion vorbereitet werden.
  • Eine Theorie über das menschliche Gehirn wird früher oder später immer auch eine Theorie über das menschliche Bewußtsein sein, über das, was wir gerne als unsere Subjektivität zu bezeichnen pflegen. Auch die medizinischen Neuro- und Informationstechnologien der Zukunft werden in vielen Fällen Bewußtseinstechnologien sein. Was wir derzeit erleben, ist allem Anschein nach erst der Anfang einer umwälzenden Entwicklung: Menschliches Bewußtsein wird in immer größerem Ausmaß technisch verfügbar, subjektives Erleben kann immer genauer beeinflußt und deshalb auch effektiver manipuliert werden. Deshalb wird es für uns alle um so notwendiger, sich - über den medizinisch-psychiatrischen Gesundheitsbegriff hinausgehend - Gedanken darüber zu machen, welche Bewußtseinszustände überhaupt interessante oder wünschenswerte Bewußtseinszustände sind. Wir brauchen deshalb nicht nur einen Neuroethik, sondern auch eine Bewußtseinsethik.
  • Neben einer kritischen Abwägung der Risiken und Chancen des Fortschritts auf dem Gebiet der Neurotechnologie ist es darum von zentraler Bedeutung, sich auch mit der kulturellen Umsetzung der neuen, von den Neurowissenschaften und der Informatik gelieferten Erkenntnisse selbst zu beschäftigen.

 

Bewußtseinskultur

Was wir brauchen - auch dies ist meine These - ist eine neue Bewußtseinskultur. Diese Bewußtseinskultur muß auf gesamtgesellschaftlicher Ebene eine vernünftige und produktive Umsetzung der neuen Erkenntnisse und Handlungsmöglichkeiten leisten, die sich in der Zukunft mit steigender Geschwindigkeit aus der Forschungstätigkeit in den genannten Bereichen ergeben werden. Zu Anfang habe ich gesagt, daß wir uns bereits jetzt im Zugzwang befinden. Es ist aus diesem Grund wichtig, daß die nun notwendig gewordene ethische Debatte rechtzeitig und auf transparente Weise geführt wird, bevor uns die gesellschaftlichen Folgen der von uns selbst entwickelten Bewußtseinstechnologien überrollen.

Eine kleine historische Schlußbemerkung: Bewußtseinskultur ist ein altes philosophisches Projekt. Schon Cicero hat die Philosophie als cultura animi bezeichnet, als Pflege der Seele - und in diesem Sinne mache ich an dieser Stelle bloß Werbung für einen sehr alten und etwas aus der Mode gekommenen Begriff von Philosophie. Die Liebe zur Weisheit als Pflege der Seele, dies ist, so denke ich, ein klassisches Motiv, das uns vielleicht bei den ersten Schritten in unserer gegenwärtigen Situation weiterhelfen könnte. Allerdings muß man zugeben, daß sich die Ausgangsbedingungen für dieses altehrwürdige Projekt einer Bewußtseinskultur seit Ciceros Zeiten ein wenig verändert haben. Deshalb benötigt die klassische Figur eine Neuinterpretation im Lichte unserer neuen empirischen Erkenntnisse über die neurobiologischen Grundlagen psychischer Prozesse. Die Frage lautet deshalb: Was könnte Bewußtseinskultur - in medizinethischer, in forschungspolitischer und in soziokultureller Perspektive - heute heißen?

 

  • Birnbacher, Dieter (1995), "Identität der Persönlichkeit und Identität der Person: Philosophische Fragen im Zusammenhang mit der Transplantation von Hirngewebe", in: Zentralblatt für Neurochirurgie 56, S. 180-185.
  • Metzinger, Thomas (1993), Subjekt und Selbstmodell, Paderborn.
  • Metzinger, Thomas (1995)(Hg.), Bewußtsein - Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie, Paderborn.
  • Metzinger, Thomas (1996), "Niemand sein", in: Krämer, S. (Hg.), Bewußtsein - Philosophische Positionen, Frankfurt.
  • Reiter-Theil, Stella (1995), "Offene Fragen an die Neurotransplantation. Versuch einer unvoreingenommenen ethischen Analyse", in: Zentralblatt für Neurochirurgie 56, S. 173-179.
  • Büro für Technikfolgen Abschätzung beim Deutschen Bundestag ,(1995), "Biologische Informationssystem im Menschen": Erste Überlegungen des TAB zu einer thematischen Umsetzung im "Forum", in: Machbarkeitsstudie zu einem "Forum für Wissenschaft und Technik", Bonn.
  • Von Kutschera, Franz (1982), Grundlagen der Ethik, Berlin.

 

► Zurück zu den Publikationen